Enteignung

Toter Schacht: Die Hintergründe

Der Erzgebirgekrimi „Toter Schacht“ spielt vor dem Hintergrund der letzten großen Enteignungswelle in der DDR im Jahr 1972. Im Buch zerbricht daran nicht nur eine einhundert Jahre alte Familientradition, unter den Repressionen des sozialistischen Staates zerbricht auch eine ganze Familie.

„Toter Schacht“ führt den Leser damit auch in ein bislang kaum thematisiertes und fast vergessenes Kapitel ostdeutscher Geschichte, das doch so viel über diesen Staat, sein System und auch die Umbrüche erzählt – Umbrüche, die auch das Erzgebirge bis heute prägen.

Auf dieser Seite können Sie mehr über die historischen Hintergründe von „Toter Schacht“ erfahren und über die Zeit, in der ein Teil des Buches spielt:

Die Enteignungswelle 1972:
Ein fast vergessenes Kapitel ostdeutscher Geschichte

Arbeiterin in einer Textilfabrik

Viele denken, die DDR wäre von Anfang an eine sozialistische Planwirtschaft gewesen. Doch das stimmt nur zum Teil. Gerade in Sachsen hatte sich schon Ende des 19 Jahrhunderts eine starke Industrie entwickelt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb von dieser Wirtschaftsstruktur viel erhalten. Bis in die 70er Jahre hinein existierten trotz Verstaatlichungskampagnen und vieler Repressionen gerade hier viele erfolgreiche Privatunternehmen. Erst mit der letzten Enteignungswelle 1972 wurde dem ein Ende gesetzt. Zwar entstanden einige moderne und auch exportstarke „Volkseigene Betriebe“, doch mit der Wende 1990 zeigte sich, dass ein großer Teil von ihnen dem Weltmarkt nicht mehr gewachsen war.

VORGESCHICHTE

Neubeginn nach dem Krieg: Entnazifizierung und Reparationen

Die Kampagne gegen private Unternehmen in der begann bereits kurz nach dem Krieg. 1946 wurden in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) etwa 4.700 Betriebe beschlagnahmt und unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Das hatte vor allem zwei Ziele: Zum einen zog die durch den Krieg furchtbar verwüstete und ausgeblutete Sowjetunion aus ihrer Besatzungszone riesige Mengen an Reparationen ab. Ganze Werke wurden abgebaut und irgendwo in die Ukraine, nach Moskau oder hinter den Ural geschafft. Zum zweiten sollten solche Unternehmen und Konzerne enteignet werden, die sich besonders stark an Naziverbrechen beteiligt oder vom Krieg profitiert hatten.

Vor diesem Hintergrund strengte vor allem die sächsische KPD-Führung ein Volksbegehren über das Schicksal der beschlagnahmten Betriebe an. Etwa ein Drittel von ihnen sollte endgültig enteignet werden,  die Hälfte war zur Rückgabe an die Eigentümer vorgesehen, der Rest sollte – insbesondere als Reparationsleistung – im Besitz der Sowjetischen Militäradministration bleiben. Im Juni 1946 stimmten etwa drei Viertel der Sachsen dieser Vorlage und damit auch der „Enteignung von Kriegsverbrechern und Naziaktivisten“ zu.

Wirtschaftspolitik in der frühen DDR: Erste Enteignungen und Repressionen

1949 wurde in der Sowjetischen Besatzungszone die DDR gegründet, ein sozialistischer Staat nach dem Vorbild der Sowjetunion. Staatseigentum und Planwirtschaft waren die großen wirtschaftspolitischen Ziele. Die Produktionsmittel sollten nicht mehr in Privathand sein. Betriebe sollten nicht mehr in Konkurrenz zueinander stehen und so wertvolle Ressourcen verschwenden. Ein Plan sollte regeln, wer was produzierte. Daher nahm schon nach der Staatsgründung die Zurückdrängung des Privateigentums neue Fahrt auf. Privatunternehmen sollten sich staatlicher Kontrolle unterwerfen. Daher wurden ihnen überall Steine in den Weg gelegt. Sie wurden bei der Zuteilung der ohnehin knappen Materialien und Rohstoffe benachteiligt. Hatten sie mehr als zehn Beschäftigte, mussten sie eine „Kapitalistensteuer“ zahlen. Sie kamen schwerer an Kredite, um Investitionen oder Material vorzufinanzieren. 1952 beschloss die SED die Gründung von Landwirtschaftlichen Produktions-genossenschaften (LPG), in denen sich Bauern anfangs noch freiwillig doch dann unter zunehmendem Druck zusammenschließen sollten. 1961 verkündete der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht die „Vollkollektivierung“.

Kurzzeitige Entspannung und staatliche Beteiligung

1953 starb der sowjetische Diktator Josef Stalin. Im ganzen Ostblock kam es zu einer leichten Abkehr von den brutalen Methoden der Stalin-Ära, zu einer vorübergehenden Öffnung und einem „Neuen Kurs“. In der DDR nahm die Zahl der Privatunternehmen kurzzeitig sogar wieder zu. Verstaatlichungen sollten „absolut freiwillig“ geschehen, gab die Staatführung als Losung aus. Stattdessen dachte man sich ein neues Modell aus – der Staat beteiligte sich an privaten Unternehmen, die formell selbstständig blieben. 1955 wurde die Einrichtung sogenannter „Betriebe mit staatlicher Beteiligung“ (BSB) beschlossen. Dabei handelte sich um Kommanditgesellschaften (KG). In einer solchen Kommanditgesellschaft trat der Staat – in Gestalt eines Volkseigenen Betriebes – als ein sogenannter „Kommanditist“ in das Unternehmen ein. Das wirtschaftliche Risiko trug allerdings weiterhin der vormalige Besitzer als „Komplementär“. Trotz des staatlichen Einflusses in ihren Betrieben hatte dieses Modell für die alten Eigentümer auch Vorteile. Sie kamen besser an Rohstoffe und der Partner-VEB war häufig ein zuverlässiger Abnehmer ihrer Produkte.

Die Sozialisierungskampagne der späten 50er Jahre

Schon wenige Jahre später nahm der Druck wieder zu. Ende der 50er Jahre sollte auf Biegen und Brechen in der DDR flächendeckend der Sozialismus verwirklicht werden. SED-Chef Walter Ulbricht befahl, den Druck auf die Privatunternehmer zu erhöhen, ihre Betriebe entweder ganz oder teilweise in staatliche Hände zu geben. Handwerker wurden dazu gedrängt, sich zu PGH (Produktionsgenossenschaften des Handwerks) zusammenzuschließen. Dazu wurden Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre in die Betriebe geschickt. Sie sollten auch die Belegschaften gegen die Eigentümer mobilisieren, etwa indem sie ihnen höhere Löhne versprachen. Anfangs war die Kampagne jedoch wenig erfolgreich. Oft scheiterte sie schon an der Inkompetenz der beteiligten Funktionäre, weil sich zum Beispiel kaum jemand mit der Gründung von „Betrieben mit staatlicher Beteiligung“ (BSB) wirklich auskannte. So gab es im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt, zu dem das Erzgebirge gehörte, nur ganze zwei Mitarbeiter, die für die damals noch 3.600 Privatbetriebe zuständig waren.

Wirtschaftskrise und Versorgungsengpass: Die Verstaatlichungskampagne wird abgebrochen

Viele Unternehmer aber hielten dem Druck auf Dauer nicht stand und gaben ihre Betriebe schließlich ganz auf.  Viele von ihnen gingen in den Westen und schlossen sich dem Strom der Republikflüchtlinge an, der um 1960 – unmittelbar vor dem Bau der Berliner Mauer – seinen Höhepunkt erreichte. Vor allem gut ausgebildete Fachkräfte verließen die DDR, das Land blutete aus. Die staatlich gelenkten VEB verfehlten ihre Planziele. Die Republik schlitterte in eine schwere Wirtschaftskrise. Die Versorgungslage verschlechterte sich.

1960 musste die Sozialisierungskampagne schließlich abgebrochen werden. Der Staat arrangierte sich vorerst mit dem verbliebenen Privateigentum. Über Steuern und Beteiligungen verdiente sogar er an erfolgreichen Betrieben mit. Doch die Beschränkungen und die Hürden blieben und machten den Unternehmern das Leben schwer.

Alte Textilfabrik im Erzgebirge

1972: DIE ENTEIGNUNG DER LETZTEN PRIVATUNTERNEHMEN IN DER DDR

Honecker kommt an die Macht: Wirtschafts- und Sozialpolitik werden umgesteuert.

1971 putschte Erich Honecker mit Unterstützung Moskaus gegen seinen Ziehvater Walter Ulbricht und wurde selbst zum neuen starken Mann in der DDR. Er setzte auch wirtschaftlich neue Akzente. Der Staat sollte sich stärker auf die lange vernachlässigte Konsumgüterproduktion konzentrieren. Viele Produkte des täglichen Lebens wurden noch stärker subventioniert und das Wohnungsbauprogramm massiv aufgestockt. Das alles kostete Geld. Doch Geld war immer knapp im Land, zumal die DDR Anfang der 70er Jahre schon wieder in eine schwere Wirtschaftskrise geraten war. Wieder hatte sich die Versorgungslage verschlechtert. Das alles weckte Begehrlichkeiten seitens des Staates, sich auch noch die verbliebenen Privatunternehmen und BSB, ihre Produktionsmittel und ihr Betriebskapital einzuverleiben. Ende 1971 wurde ihre Verstaatlichung im ZK der SED beschlossen. Nur noch Kleinstbetriebe wie Ladengeschäfte, kleine Gasthöfe oder Werkstätten blieben davon ausgenommen.

Februar 1972: Die SED hält sich bedeckt.

Das ganze Vorhaben sollte zunächst den Anschein erwecken, dass die Unternehmer in der DDR selbst eine Verstaatlichung ihrer Betriebe wünschten. Deshalb wurde auch ein Parteitag der Blockpartei LDPD, in der viele Mittelständler organisiert waren, im Februar 1972 ausgewählt, um die Kampagne zu eröffnen. LDPD-Vorsitzender Manfred Gerlach musste verkünden, dass die Firmeninhaber und Komplementäre in der DDR ihre Betriebe und Unternehmensanteile an den Staat verkaufen wollten, um die Entwicklung des Sozialismus in ihrem Land voranzutreiben.

Die SED hielt sich in der Öffentlichkeit zurück und gab den vermeintlich wohlwollenden Beobachter. Auch SED-Medien wie das Neue Deutschland berichteten zunächst nicht. Stattdessen schrieben nur die LDPD- und CDU-nahen Zeitungen über die geplanten Verstaatlichungen. Erst im März 1972 äußerte sich Honecker öffentlich und kündigte gleichzeitig eine Verschärfung der Maßnahmen an. Er schürte Sozialneid gegenüber den Privatunternehmern, sprach von Schmarotzern und Kapitalisten, die sich wieder zu Millionären gemausert hätten. Der Ton wurde rauer.

März 1972: Die Enteignungswelle beginnt chaotisch.

Die Enteignungen selbst begannen überhastet und planlos. Ende Februar wurden erste Arbeitsgruppen in den Bezirken und Kreisen gebildet. Ihnen gehörten Funktionäre aus den Parteizentralen und aus den betroffenen Branchen an. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es weder einen Überblick über die zu verstaatlichenden Betriebe, noch aktuelle Zahlen. Es fehlten genaue Anweisungen, wie die Verstaatlichungen überhaupt ablaufen sollten. Selbst hochrangige Funktionäre äußerten Bedenken an der Kampagne. Sie hatten die berechtigte Sorge, dass eine Zerstörung der letzten Reste einer oft erfolgreichen Privatwirtschaft die Versorgungskrise in der DDR noch verschärfen könnte.

März 1972: Es gibt einen Plan.

Erst im März 1972 konkretisierte sich die Vorgehensweise. Eilig hatten sich die staatlichen Stellen einen Überblick verschafft und Listen betroffener Unternehmen erstellt. So wurden im Bezirk Karl-Marx-Stadt ca. 1.700 Betriebe mit staatlicher Beteiligung (BSB), 700 Privatunternehmen und 250 PGH für eine Verstaatlichung ausgewählt. Nach wie vor sollte alles wie eine freiwillige Initiative der betroffenen Unternehmer aussehen. Deshalb wurde von ihnen eine „Bereitschaftserklärung“ verlangt, ein freiwilliges Einverständnis, ihren Besitz zu verstaatlichen.

Lag diese Erklärung vor, musste es ganz schnell gehen. Schon innerhalb von zwei Wochen wurde eine Gründungsversammlung abgehalten, bei der die Belegschaft auf den neuen staatlichen Betrieb eingeschworen wurde, und wo man den neuen Betriebsdirektor vorstellte. Häufig waren das die alten Eigentümer oder Komplementäre. Fortan waren sie in ihren früheren Firmen angestellt und erhielten Lohn ausgezahlt. Auch wurde ihnen rein formell der Betrieb oder ihre Betriebsanteile nicht weggenommen, sondern vom Staat abgekauft. Doch die Beträge, die dafür veranschlagt wurden, blieben in der Regel weit unter dem wirklichen Wert ihres Besitzes zurück. Zudem wurde die Kaufsumme auf ein Sperrkonto überwiesen, von dem jedes Jahr nur eine begrenzte Summe ausgezahlt wurde. Kein Wunder also, dass sich anfangs nur wenige Unternehmer auf diesen Handel einließen.

April 1972: Staatsicherheit, Schmutzkampagnen und tausende Funktionäre: Der Druck wächst

Im Angesicht der schleppenden Kampagne trieb die SED ihre Funktionäre zur Eile an. Doch die Verfahren waren kompliziert. Wie hoch war das Betriebskapital, welchen Wert hatten Maschinen und Immobilien? Wie hoch hatte der Kaufbetrag also zu sein? Gab es Außenstände, Verbindlichkeiten? All das musste geklärt werden. Um die Vorgaben zu erfüllen, wurden nun auch Kleinstbetriebe, die zunächst gar nicht dafür vorgesehen waren, in die Verstaatlichung einbezogen. Die Funktionäre drohten den Eigentümern, wenn sie sich weigerten. Sie wiegelten die Belegschaft auf. In anderen Fällen lockten sie mit besseren Verkaufskonditionen. Die Besitzer konnten zum Beispiel Wohnimmobilien oder Dienstwagen behalten. Über das künftige Gehalt als Betriebsleiter wurde ebenso verhandelt wie über die Absicherung von Ehepartnern, Kinder oder Verwandten.

Im April 1972 erreichte die Kampagne ihren Höhepunkt. Die Zahl der Umwandlungskommissionen war gewaltig angewachsen. Binnen kürzester Zeit waren im Bezirk Karl-Marx-Stadt 2.200 Arbeitsgruppen gebildet worden. Über 9.000 Funktionäre schwärmten jetzt aus, um Bereitschaftserklärungen einzuholen und Gründungsversammlungen vorzubereiten.

Auch die Staatssicherheit trat auf den Plan. Ihre Aufgabe war es, widerspenstige Eigentümer zu diskreditieren, Preisverstöße, Steuervergehen, staatsfeindliche Einstellungen, Verbindungen in den Westen oder andere tatsächlich oder vermeintliche Vergehen aufzudecken oder zu unterstellen. Selbst legale Maßnahmen wurden stellenweise als Manipulation gebrandmarkt. Es gab Schmutzkampagnen gegen widerspenstige Eigentümer. Manchmal wurden Gründungsversammlungen angesetzt, ohne dass die Besitzer etwas davon wussten.

Mai 1972: Der Widerstand ist gebrochen.

Im April 1972 brach der anfängliche Widerstand der Eigentümer weitgehend zusammen. Bis zum ersten Mai, dem Tag der Arbeit, lag der größte Teil der Bereitschaftserklärungen vor. Mitte Mai 1972 war kaum noch ein Privatunternehmen übrig. Die eigentliche Abwicklung dauerte jedoch noch bis weit in das Jahr 1973. In dieser Zeit mussten Inventuren vorgenommen, Bilanzen überprüft, die Kaufsumme festgelegt und der eigentliche „Verkauf“ abgewickelt werden. Streitigkeiten mit den Alteigentümern waren auch in dieser Zeit nicht selten, wurden aber zunehmend unterdrückt.

Maschinen in einer Textilfabrik

Literatur

Ebbinghaus, Frank (1999): Ausnutzung und Verdrängung. Steuerungsprobleme der SED-Mittelstandspolitik 1955-1972. Stuttgart.

Haendcke-Hoppe, Maria (1982): Privatwirtschaft in der DDR. Geschichte – Struktur – Bedeutung. In: FSAnalysen 1 (1982) (=Forschungsstelle für Gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen).

Hoffmann, Heinz (1998): Die Betriebe mit staatlicher Beteiligung im planwirtschaftlichen System der DDR 1956-72. Stuttgart.